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Das Doppelgesicht: Vernetzte Kritik und vernetzte Kontrolle

Michael Seibel • Wege in die smarte Diktatur   (Last Update: 30.10.2018)

Traditionell macht die bürgerliche Öffentlichkeit durchaus auch Konventionen des Stils und des Habitus wie einst der fürstliche Hof zu ihren eigenen Diskursstandards. Sie hat bis heute eine repräsentative Seite, die älter ist als sie selbst. Was als Stil erwartet, welcher Habitus zugelassen ist, hat sich stark verändert und in den einzelnen heutigen Teilöffentlichkeiten vervielfältigt. Habermas schreibt 1962, dass Kultur zum diskussionsreifen Gegenstand wird, über den sich „die publikumsbezogene Subjektivität mit sich selbst verständigt“13. Diese Aussage ist heute so zutreffend wie eh und je, nur ist der Kulturbegriff einer Rapper-Szene ein völlig anderer als der einer SPD-Ortsgruppe, eines Golfclubs oder einer Ärztevereinigung. Es wäre fatal zu glauben, Einstellungen innerhalb einer Teilöffentlichkeit ließen sich allein durch Sachargumente ohne Bezug auf die jeweilige Diskurskultur und sei es die Unkultur von Shitstorms verändern. Die Dauermutation der Diskursstile wäre ohne die Verfügbarkeit der neuen Medien, ohne das Smartphone für jedermann und Sozial Media praktisch ohne Teilnahmeschranken nicht möglich.


Die Verfügbarkeit ohne hohe Teilnahmeschranken ist zweifellos das Ergebnis exzellent funktionierender Geschäftsmodelle. Das zentrale Produktversprechen heißt 'Convenience', größtmögliche Bequemlichkeit, Erlebnisdichte, Freiheit der Kontaktaufnahme und Konsumfreiheit für jedermann im Gegenzug gegen Nutzerdaten. Nutzerdaten bilden die Grundlage für Information als Ware, im Grunde nicht viel anders als die Fernhandelsinformationen, die zu Beginn des Zeitungswesens ab dem 16. Jahrhundert als Tageszeitung zweitverwertet wurden. Nur unendlich viel dichter. Der aktuelle Strukturwandel der Öffentlichkeit ist ebenso wie der zwischen dem 18. Jahrhundert und den 60er Jahren des zwanzigsten von Technik getrieben. Aber Technik allein treibt nichts an. Ihre rasante Verbreitung ist ihrerseits wiederum ökonomiegetrieben, was erneut Verschiebungen im Verhältnis von Gesellschaft und Staat hervorruft, deren Ausmaß wir heute noch nicht absehen.


Es ist zumindest bislang unmöglich, einerseits Vernetzungen eines jeden mit jedem über sämtliche Lebensbereiche hinweg zu realisieren und die selben vernetzten Menschen sodann bei der Mediennutzung auf klassische Medien einzugrenzen und zu kontrollieren. Mir scheint, dass es zu einem ganz ähnlichen Effekt kommt, wie dem von Habermas für die Entstehung des Zeitungswesens ab dem 17. Jahrhundert beschriebenen: Das Medium, dass Ansagen der Obrigkeit an ihre Bürger diente, wird umgekehrt auch von den Bürgern als Medium der Kritik angeeignet. Wer über das Internet beliebiges bestellen kann und dessen Daten erhoben werden können, kann potentiell auch über das Internet in den vielfältigsten Formen kritisieren und sich in kritischer Absicht mit anderen abstimmen. Das heißt nicht, dass staatliche Kontrollversuche von vorn herein zum Misserfolg verdammt wären. Auch das folgende ist eine Ausprägung von Öffentlichkeit:

Der Deutschlandfunk berichtet am 9.9.2017: „Bereits im Jahr 2014 hat die chinesische Küstenstadt Rongcheng damit begonnen, ein Sozialkredit-System einzuführen. Die Idee dahinter ist radikal und einfach: Der Staat sammelt so viele Daten wie möglich, trägt sie zusammen und wertet sie aus. Jeder Bürger bekommt ein Punkte-Konto. Und auf dieser Grundlage kann der Staat dann bestrafen oder auch belohnen. Zhang Jian vom Forstamt weiß, worauf er im Alltag zu achten hat.
»Wenn ich bei Rot über die Ampel fahre, geht's runter mit dem Kontostand. Das läuft alles hier auf. Die öffentlichen Ämter sind alle verbunden. Wenn man sich in der Öffentlichkeit daneben benimmt, zum Beispiel in eine Schlägerei verwickelt ist, kommt man sofort auf die schwarze Liste. Auch meine Arbeit im Forstamt fließt in das Sozialkredit-System ein. Wenn die Bürger mit unserem Service nicht zufrieden sind, können sie sich beschweren. Das hat dann Auswirkungen auf meinen Punktestand. « (…)
Die rund 670.000 Einwohner in Rongcheng müssen ihren Sozialkredit-Punktestand regelmäßig vorweisen: für eine mögliche Beförderung beim Arbeitgeber, für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Chinas, für die Beantragung eines Kredits bei der Bank. Nichts geht mehr ohne gute Bewertung. An Lin ist Sachbearbeiterin im Amt für Sozialkredit-Management. Bevor sie Zhang vom Forstamt das Blatt mit seinem Kontostand aushändigt, erklärt sie das Punktesystem.
»Der Punktestand ist anfangs für alle gleich, nämlich genau 1.000. Diese Zahl erhöht sich dann mit der Zeit – oder wird niedriger. Die höchste Bewertung ist AAA. Dazu braucht man einen Stand von mindestens 1050 Punkten, also 50 mehr als die ursprünglichen 1.000. Dann geht es nach unten weiter mit AA und dann A und so weiter. Die schlechteste Bewertung ist D – da liegt man bei unter 599 Punkten.« Die mit einer A-Bewertung stehen auf der roten, die anderen auf der schwarzen Liste. Die auf der roten Liste werden bevorzugt behandelt: bei Zulassungen für Schulen, bei sozialen Leistungen oder auch beim Abschluss von Versicherungen. Die aus der C-Gruppe werden regelmäßig kontrolliert und bekommen bestimmte Einschränkungen. Das kann z.B. die Kürzung von sozialen Hilfen sein. Wer in der untersten Klasse D auftaucht, qualifiziert sich nicht mehr für Führungspositionen, bekommt bestimmte Leistungen gestrichen und verliert seine Kreditwürdigkeit.“14

Die Kontrollstrategien – siehe Chinas 'Sozialkreditsystem' – sind noch weit obskurer als die Kritikformen, die durch die allgemeine Verfügbarkeit von Internetforen und bidirektionalen Kommunikationswegen möglich wird. Ein shitstorm ist harmlos verglichen mit Chinas Saubermännern.



Wege in die smarte Diktatur


Harald Welzer sieht uns 2016 in Die smarte Diktatur, der Angriff auf unsere Freiheit auf dem direkten Weg in eine neo-feudale Diktatur.15

Er sieht diesen Weg gekennzeichnet durch einen zunehmend räuberischen, ökologisch katastrophalen Kapitalismus, der nur mehr die Vorherrschaft bestehender Kapitalinteressen konserviert und weiter ausbaut, durch eine immer lückenlosere Überwachung, zu der es zwangsläufig mit unserem Konsum digitaler Medien kommt.

„Heute haben wir es mit einer fatalen Konvergenz zweier Überwachungsmaschinerien zu tun, nämlich einer staatlichen und einer privaten. Womit wir de facto konfrontiert sind, ist eine staatlich-privatwirtschaftliche Formation zur Erzeugung von informationeller Macht über Menschen. Diese Formation macht die totale Überwachung von Menschen so perfekt umsetzbar wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.“16

Klassische Marktwirtschaften werden sukzessiv undemokratischer, Länder, die erst jetzt kapitalistische Wirtschaftsordnungen entwickeln, überspringen die Phase der Demokratie von vorn herein und entwickeln keine demokratische Öffentlichkeit.


Auf diesem Weg kommt es zum Abbau der Sozialbeziehungen zwischen den Menschen, die zwangsläufig von einer Verarmung ihrer Persönlichkeit begleitet wird.


„Kultur ist nichts Äußerliches, sie übersetzt sich immer in die Innenwelten der Menschen, die in ihr leben. Das von Ambivalenz, Widerspruch, Erfahrungsoffenheit befreite Subjekt muss zwangsläufig eine verarmte Innenwelt haben; viel passieren wird da nicht mehr. Ein brutales Artensterben der Gedanken wird die Folge sein.“17

Diesen Aspekt betont Melzer stärker als andere Kritiker. Wir begeben uns in einen sozialen Raum der Redundanz, „der ich nur noch selber bin“.


Für all das gibt Melzer in seinem lesenswerten Buch eine Fülle von Beispielen, deren Beweisdichte letztlich nicht ausreicht.


Die größte Gefahr, die Melzer sieht, wenn ich ihn richtig verstehe, kommt also letztlich weder aus der Politik allein, noch aus der Wirtschaft allein, sondern aus der Gesellschaft selbst, die zunehmend aus Menschen besteht, die sich zirkulär selbst entmündigen.





Anmerkungen:

13 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 1990, S. 88

14 https://www.deutschlandfunk.de/sozialkredit-system-china-auf-dem-weg-in-die-it-diktatur.724.de.html?dram:article_id=395440

15 Adam Soboczynski hat Welzers Buch in seiner Rezension in Zeit Online eine „staunenswerte Verschwörungstheorie“ genannt. (https://www.zeit.de/2016/24/die-smarte-diktatur-harald-welzer) Es ist wohl am besten, man bildet sich seine eigene Meinung, was an dieser Kritik dran ist. Mir scheint, Soboczynski fühlt sich durch Welzers Szenario schlicht verschreckt und spricht ein Denkverbot aus nach dem Motto: das Ganze darf nicht gedacht werden, weil es zu komplex ist und also nicht gedacht werden kann. Dass Welzer Verschwörungstheorie betreibt, ist jedenfalls Quatsch. Verschwörunstheorie gefallen sich in der Erfindung von Schuldigen auf der einen und Unschuldigen auf der anderen Seite. Verschwörungstheorien sind ihrem Wesen nach Entschuldigungen. Das macht Welzer nun absolut nicht.

16 Vgl. Harald Welzer, Die smarte Diktatur, der Angriff auf unsere Freiheit

17 Ebd.


Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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